March 14, 2017 -

As told to Yancey Strickler, 1653 words.

Tags: Writing, Film, Politics, Process.

Adam Curtis über die Gefahr der Selbstdarstellung

Aus einem Gespräch mit Yancey Strickler
Übersetzt von Anja Fulle
March 14, 2017
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Kunst

Kunst ist eine gute Sache; Selbstdarstellung ist klasse. Es ist aber auf keinen Fall ein Ersatz für politisches Handeln, um die Welt zu verändern und bestehende Machtverhältnisse herauszufordern.

Kunst eignet sich hervorragend dazu, die Welt zu beschreiben; einen Zeitgeist herauszufiltern. Anhand der Werke der Maler, die die Ehefrauen und Familien der Räuberbarone des 19. Jahrhunderts portraitierten, wissen wir heute, wie die Welt damals aussah.

Dann gab es in den frühen 70er Jahren einen Wandel, auf einmal wurde Selbstdarstellung zum politischen Werkzeug. Selbstdarstellung als eine neue Form, Missstände in der Welt anzuprangern. Aber das funktioniert so nicht, denn die ganze Welt beruht auf Selbstdarstellung.

Vielleicht ist dies eine neue, radikale Weltansicht. Eine neue, aufregende, frische Sichtweise, die wir bisher nicht kannten, da sie unserer Weltwahrnehmung widerspricht. In jedem Zeitalter gibt es etwas, woran die Leute blind glauben, das dann 50 Jahre später als konformistisch abgetan wird. Schauen Sie sich Fotos von Männern in Bars in den 30er Jahren an: Sie tragen alle die exakt gleichen Anzüge und Hüte.

Vielleicht blicken wir irgendwann zurück und sehen die Selbstdarstellung als die abstumpfende Konformität unserer Zeit an. Aber es muss deswegen nicht schlecht oder fake sein. Wir sind heute an einem Punkt, an dem Selbstdarstellung gang und gäbe ist - also warum überhaupt darüber reden? Wir alle üben uns in Selbstdarstellung, jeden Tag.

Wir stellen uns selbst dar. Das ist der Konformismus unserer Zeit. Irgendwann wird man auf unsere Zeit zurückblicken und sagen: „Oh Gott! Das ist ein bisschen wie die Einheitsklamotten in den 30ern. So sah damals ihre Selbstdarstellung aus.

Das ist es, was wir nicht wahrhaben möchten. Das soll nicht heißen, dass man keine Kunst machen soll. Aber als Künstler ist man eben kein radikaler Außenseiter, auch nicht der coole Hipster-Außenseiter. Es ist alles reiner Konformismus.

Individualismus

Die Geschichte der modernen Selbstdarstellung geht zurück auf die Hippiebewegung. Sie rückt vor allem mit dem Scheitern der neuen Linken der späten 60er und frühen 70er Jahre mehr und mehr ins Blickfeld. Patti Smith schrieb ein hochinteressantes Buch mit dem Titel Just Kids. In diesen Memoiren beschreibt sie ihre Beziehung zu Robert Mapplethorpe und macht eine klare Aussage: Smith und ihresgleichen sind es leid, sich selbst aufzugeben, nur um in einer Gruppen mitzumarschieren, denn wozu soll das schon gut sein? Zu gar nichts!

Stattdessen sollte man sich selbst darstellen, seiner Wut über das System auf möglichst fantasievolle Weise Ausdruck verleihen - eine Alternative zu der gescheiterten Linken. Es ist ein Neubeginn, eine aufregende Zeit; man kann die Aufregung in ihrem Buch förmlich spüren.

Eine meiner Serien hat den Titel „The Century of the Self“. Sie beschreibt die großen Veränderungen des Kapitalismus in den 70er Jahren. Damals ging man weg von der Idee, uniforme Güter an den Mann bringen zu wollen, damit alle gleich aussahen und dieselben Sachen trugen. Der Kapitalismus erschuf sich neu und begann, dem Konsumenten eine viel breitere Produktpalette anzubieten – um ihm die Selbstdarstellung zu ermöglichen.

Was den Künstlern zunächst rebellisch vorkam, war tatsächlich Spiegel einer Veränderung tief innerhalb jener Machtstruktur, gegen die sie sich auflehnten: Der Kapitalismus imitierte sie.

Das Interessante an unserer Zeit ist, dass – wie rebellisch auch die Botschaft deines Kunststils sein mag - wenn du als Künstler durch Selbstdarstellung Kritik ausübst, arbeitest du tatsächlich in die Hand genau jener Machtstruktur, die du stürzen möchtest. Auch diese Machtstruktur, die du kritisierst, hat sich die Selbstdarstellung zum endgültigen Ziel gemacht.

Im Kapitalismus geht es um Selbstdarstellung und in der Kunst geht es um Selbstdarstellung. Kunst ist also weit davon entfernt, eine radikale Außenseiterbewegung zu sein. Sie ist vielmehr das Herzstück der modernen Konformität. Und deshalb wird sich auch nie etwas ändern, denn die Radikalen haben sich einer Ausdrucksform zugewandt, wie sie auch im Zentrum eben jener Machtstruktur, gegen die sie sich auflehnen, praktiziert wird. Sie wurden kastriert.

Macht

Wenn du die Welt verändern möchtest, musst du dir zuerst bewusst darüber werden, von woher Macht ausgeübt wird. Das ist nicht einfach. Wir leben in einer Welt, in der wir uns als unabhängige Individuen fühlen. Als unabhängiges Individuum denkst du nicht unbedingt an ein Machtsystem als solches. Du denkst eher daran, wie du als Individuum das Weltgeschehen beeinflussen kannst.

Was dir dabei verborgen bleibt, ist etwas, was die Menschen früher sehr viel deutlicher erkennen konnten: Als Gruppe hat man sehr viel Einfluss. Man kann Dinge verändern. Wenn etwas schiefläuft, kann man als Gruppe immer noch Hoffnung für die Zukunft hegen; dem ist allerdings nicht so, wenn du auf dich alleine gestellt bist. Aus diesem Grunde verkümmert das gesamte Machtkonzept heute, denn wir werden angehalten, nur noch über uns selbst zu sprechen; über unsere Gefühle Anderen gegenüber. Man hält uns nicht dazu an, uns als Teil von irgendetwas zu sehen.

Computer hingegen wissen, wo es langgeht. Sie sehen uns als Gruppen. Wir sind uns tatsächlich ziemlich ähnlich. Wir haben alle dieselben Wünsche, Ambitionen und Ängste. Computer können dies durch Korrelation und Verhaltensmuster erkennen.

Computer sind zwar in der Lage, uns in Gruppen einzuteilen, sind aber so plump, dass sie uns lediglich in große Obergruppen einteilen können, mit dem Ziel, uns etwas zu verkaufen. Tatsächlich könnten wir durch die Nutzung von Computern erkennen, welche Macht wir dank gemeinsamer Identitäten innerhalb verschiedener Gruppen gewinnen könnten; diese Einsicht wird aber von niemandem genutzt. Computer haben das Potenzial, neue Gruppen, neue gemeinsame Identitäten zu identifizieren.

Freiheit

Heute ist die kollektive Selbstdarstellung an Stelle politischer Mittel getreten. Du gibst deiner Verbundenheit mit andern Menschen Ausdruck, indem du ganz in dieser Einheit aufgehst. Ein Beispiel dafür in der jüngsten Geschichte der USA ist die Bürgerrechtsbewegung.

In den 50er Jahren machten sich junge weiße Aktivisten auf in die Südstaaten der USA, um dort mit jungen schwarzen Aktivisten zusammenzuarbeiten, oft jahrelang. Viele von ihnen erfuhren brutale Gewalt, manche fanden sogar den Tod. Sie haben sich ganz einer Sache hingegeben, und haben mit der Macht, die ihnen dadurch gegeben wurde, die Welt verändert.

„Freiheit“ kann auf verschiedene Arten interpretiert werden. Die heutige Vorstellung von Freiheit ist sehr individualistisch: Ich - als Individuum - möchte die Freiheit haben, zu tun was immer ich möchte.

Dann gibt es da noch eine andere Art von Freiheit – die völlige Freiheit im Dienste Gottes. Die völlige Selbstaufgabe in Seinem Dienst befreit uns aus dem engen Käfig unserer Wünsche und unserer Selbstsucht. Man wächst darüber hinaus. Man wächst als Person und wird Teil eines größeren Ganzen.

Wenn man die Idee der Selbstdarstellung (mit dem dazugehörigen Gefühl der Grenzenlosigkeit, denn die Ideologie unserer Zeit ist der Individualismus) von einer anderen Warte aus betrachtet, ist diese durchaus begrenzt, denn man hat ja nur sich selbst und seine eigenen Wünsche. Es gibt andere Dinge, die uns davon befreien könnten. Das ist eine andere Art von Freiheit.

Mythos

Kürzlich habe ich ein Buch des Soziologen Max Weber gelesen. Weber prophezeite in den 20er Jahren, dass wir alle von einem bürokratisierten Zeitalter überrollt werden würden. Dies könnte ebenso gut von der Rechten als auch von der Linken ausgehen. Er nannte es den „eisernen Käfig der Rationalität“. Eine wunderbare Welt, in der alles organisiert wäre, alles rational erledigt werden würde. Wir würden dadurch allerdings die Begabung verlieren, uns „verzaubern“ zu lassen. Wir würden in einem durch und durch desillusioniertem Zeitalter leben. Wir würden das Gefühl für das Geheimnisvolle, das Wundervolle verlieren. Laut Weber wäre der Preis für ein Leben in diesem eisernen Käfig die „Entzauberung“. Manchmal frage ich mich, ob Verschwörungstheorien nicht letztendlich ein verzweifelter Versuch sind, die Welt aufs Neue zu „bezaubern“.

Fast so, als ob die Religion versuchte, durch die Hintertür wieder in unser Leben zu gelangen. Ein Mysterium, das über unser Weltverständnis hinausgeht. Das ist das Gefühl, das man hat, wenn man sich mit einem Verschwörungstheoretiker unterhält. Ein fast schon romatisches Gefühl der Ehrfurcht vor diesem dunklen, geheimnissvollen Etwas, das niemals von einem rationalen Etwas durchschaut werden könnte. Es hat fast schon religiöse Züge.

Vielleicht ist es dieser Zauber, der sich einen Weg zurück in unser Leben sucht, und vielleicht gelingt es ihm nur durch die Hintertür. Die rationale, technokratische Ernüchterung wurde zum Fallstrick des Kapitalismus. Der bekannte eiserne Käfig. Der Käfig, in dem wir gefangen sind. Ein neuer Zauber, ein neues Mythos ist vonnöten.

Ein Mythos, der zumindest versucht, uns die Dinge zu erklären, die wir nicht verstehen; der uns ein Gefühl von Trost vermittelt, über unsere eigene Existenz hinaus. Ich denke, das ist wirklich etwas Gutes. Wir brauchen das. Nimm eine mystische Kraft, wie zum Beispiel die Religion, und du kannst über Dinge wie Macht reden; mit normalem Journalismus gelingt dir das nicht, er ist zu langweilig und zu limitiert; zu rational und technokratisch. Ihm fehlt der dramatische Touch.

Und dann das Melodrama. Ein erhöhtes Bewusstsein, um aus dem rationalen, technokratischen Käfig zu entkommen, in dem wir aus finanziellen Gründen das eine, und aus asketischen Gründen das andere tun sollen. Das ist so limitiert. Das ist so öde.

Der Trick dabei ist, dass du dich immer noch als unabhängiges Individuum fühlen sollst. Für den Hyperindividualismus unserer Zeit gibt es kein Zurück. Hier muss man das Unmögliche versuchen: Die Leute sollen immer noch das Gefühl haben, unabhängige Individuen zu sein, sich aber dennoch einer Sache hingeben, etwas Großem, etwas Gewaltigem, das sie bis in die Zukunft begleitet; über ihre eigene Existenz hinaus. Das ist genau das, wonach sich die Leute sehnen.

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